top of page
HERZieherin

Rätsel raten...




„Oh WOW, das hast du aber wunderschön gemalt!“, sage ich freudig anerkennend zu Julius, und Julius guckt freudig, doch betreten verlegen auf den Boden. Ich bin gerührt, dass er mir etwas gemalt hat. „Ist das ein Wal?“, möchte ich wissen und zeige auf das blaue Etwas auf dem Papier. „Nein, das ist eine Schildkröte!“, werde ich prompt korrigiert. Okee, zumindest mit einem Tier lag ich richtig und er nimmt mir die Fehlinterpretation scheinbar nicht übel.


"Damaaari, GUCK, was ich gemalt habe!" Das erkenne ich sofort, Menschen. "Das sind meine Mama und mein Bruder und das bin ich und das ist meine Schwester!", wird mir erklärt und zum besseren Verständnis auf die wirklich größenverhältnismäßig unterschiedlichen Familienmitglieder gezeigt. Sie schweben alle in der Luft. "Na klar, wir sind ja auch im Weltraum!" Natürlich, daneben steht doch die Rakete, ich muss einfach ordentlich hinschauen. Mit Feuer und Luke und sämtlichen Details, für deren Benennung mir leider das Fachwissen fehlt. Muss ich wohl nochmal unseren vierjährigen Astronautenexperten um Nachhilfe bitten. "Und wo ist dein Papa?", möchte ich wissen, da ich den nirgendwo entdecke. Kurzes Rattern über der Stirn. "Der ist in der Rakete geblieben und guckt sich die ganzen Knöpfe an." Um Erklärungen nicht verlegen, ich bin beeindruckt.


„Hier, für diss!“, ertönt es neben mir und Toni drückt mir ein bunt bemaltes Blatt in die Hand. Bei genauerer Betrachtung erkenne ich viele kleine Kritzel. Sehr kleine Kritzel. „Hab iss gesrieben.“ „Oooch, ist das ein Liebesbrief?!“ Vehementes Nicken, während er verlegen seinen Kopf zwischen die Schultern zieht wie eine Schildkröte. Eine sehr goldige Schildkröte. Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass dieser für ein Mädchen bestimmt sei und teile ihm diesen Gedanken mit. Er winkt ab und versichert: „Die braucht den nisst.“ Schmunzelnd vermute ich, dass Karolines Geheimfach wahrscheinlich bereits zu voll ist mit sämtlichen Briefchen und Bildchen. Ich frage interessiert: „Und was steht dort, was hast du da geschrieben?“, ernte allerdings lediglich ein schulterzuckendes „Weiss is nisst!“ und sehe in großen Lettern auf Tonis Stirn geschrieben: „Wer kann denn von uns beiden lesen, DU oder ICH!?!“


Im Schmetterlingsmonat (jeder Monat unseres Geburtstagskalenders hat ein Tiermotiv als Erkennungszeichen) prangt kein einziges Bild, stellen Finja und Linda fest, als sie fragend davorstehen und mit dieser Leere irgendwie nicht zufrieden zu sein scheinen. Es hat nunmal keines der Kinder zu der Zeit Geburtstag. Ich widme mich den beiden und merke an: „ICH habe in dem Monat Geburtstag!“ Da schnellen zwei Köpfe herum. „Du bist ein Schmetterling?!?“ Ich nicke zustimmend, dass ich, ja, im Juni Geburtstag hätte. Linda meint jedoch, dass ich ja kein Foto habe, das man da hinkleben könnte. Woraufhin ich vorschlage, sie könnten eins von mir malen. Die eine wirkt begeistert, die andere überlegt irritiert: „Ich kann aber nur fette Menschen malen!“ Bevor ich allerdings loslachen muss, läuft Linda schon mit AHA-erhobenem Zeigefinger Richtung Malstifte und triumphiert begeistert: „OH, ich habe da eine Idee für eine dünne Figur!“ Ich bin gespannt wie ein Bogen, bevor er anfängt, zu flitzen. Einige Minuten später stelle ich dann fest, dass das Kopfzerbrechen über den Körperumfang nicht hätte sein müssen, da auf das Miniportrait lediglich Kopf mit Augen, Mund und Nase gepasst haben. Zumindest vermute ich, dass das dort Kopf mit Augen, Mund und Nase sein sollen.


In meinen Jahren als werdende Erzieherin habe ich gelernt, dass Kinder bei kreativen Arbeiten nicht zu viele Vorgaben bekommen sollen. Wenn ein Kind das Krokodil lila malen möchte, dann darf es das Krokodil lila malen. Da gibt es kein Richtig oder Falsch (ANMERKUNG: Natürlich darf auch aus pädagogischer Sicht mit dem Kind gemeinsam überlegt werden, ob das Tier wirklich die gewählte Farbe („Mir gefällt sehr, dass du das Krokodil lila gemalt hast, originell!“) oder doch in echt eine andere trägt. Sie sollen die Möglichkeit bekommen, sich auszudrücken. Frei zu wählen. Sich frei zu entfalten. Manchmal ist allerdings das Einzige, was dabei mit Entfaltung zu tun hat, meine zerfurchte Stirn aufgrund der krampfhaften was-hat-sich-der-Künstler-wohl-dabei-gedacht-Überlegungen.


Tatsächlich entstehen großartige Gemälde durch die bunten Fantasien und Ideen. Ja, natürlich kann ich als Erzieherin sämtliche Eisbären, Prinzessinnenschlösser und Astronauten in Raketen vormalen. Die dann möglichst auch ungefähr nach solchen aussehen, versteht sich. ABER…was wünsche ich mir für das Kind? Dass es – Hauptsache – ein wahrheitsgetreues Bild in den Händen hält? Nein. Dass es mich überschüttet mit wie-ssssön-das-aussieht-Lobeshymnen? Das tut zwar gut, aber nein. Selbstverständlich kann ich schneller und sauberer ein Flugzeug falten. Oder ein Huhn malen. Oder dem Papierdrachen einen Knoten in den Schweif binden, der auch hält. Doch ich wünsche mir für das Kind ein Erfolgserlebnis. Dass es selbst etwas schafft und stolz darauf sein kann. Dass es erfahren darf, was Selbstwirksamkeit bedeutet. Ich BIN etwas und ich KANN etwas und ich habe das hier SELBST gemacht. Natürlich benötigt es dafür zuweilen sehr lange Geduldswollfäden, aber hey, Stricken ist wenigstens etwas, das ICH nicht kann. Und so sind wir alle irgendwie gemeinsam am Lernen. Ich kann das Huhn auch nur so gut malen, weil ich lange, lange Zeit geübt habe, Hühner zu malen. Den Papierfliegerwettbewerb kann nur gewinnen, wer Tag für Tag geübt hat, exakte Kanten zu falzen und die umstehenden Erwachsenen mit dem Kopierpapierverschleiß halb in den Wahnsinn zu treiben. Schleifen binden kann nur jemand, dem geduldig gezeigt wurde, wie das nochmal geht mit den Hasenohren und dem Fuchsbau. Begleitung. Ermutigung. „Du schaffst das!“ „Du kannst das!“ „Ich glaub an dich!“ „Wenn du das noch nicht so gut kannst, mach einfach weiter, irgendwann geht es wie von alleine!“ Und dann tritt nach fünfzehn Minuten Wehklagen und Frustration ein überraschtes Strahlen auf das Kindergesicht, weil die Kuh nach dem Ausschneiden noch immer ihren Kuhkopf auf dem Kuhkörper hat. Und dann bin ich genauso überrascht, und zwar, was so ein Ermutigen und „Weiter so! Du schaffst das!“ bewirkt.


Also an alle, die das hier lesen, zwischen den Zeilen immer wieder zustimmend nicken, verständnisvoll seufzen oder erleichtert sind, dass ihre Kinder nicht die einzig schnell frustrierten Kinder sind: WEITER SO! DU SCHAFFST DAS! Die Kinder, die wir begleiten und denen wir für die Zukunft Langmut und Geduld, eine ausgewogene Frustrationstoleranz und gute individuelle Erfolgserlebnisse wünschen, brauchen genau uns! Um zu bestärken, jeden kleinen Fitzelschritt nach vorn euphorisch zu loben, zu ermutigen, mitzuwarten. Das Warten lohnt sich. Das Rätsel raten auch (stärkt Fantasie und Vorstellungskraft und löst Lacher aus ... = Auslacher).



100 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Nur noch ROT sehen

Comments


bottom of page