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HERZieherin

Warum hat man auch nur zwei Hände...?

An diesem frühlingshaften Vormittag gibt es ganz viele tolle Tatsachen. Allen voran die, dass Freitag ist. Es war eine lange Woche und der heutige Tag ist sehr vielversprechend. Viele Versprecher von Kindern, Wortfindungsstörungen meinerseits und viele Versprechen der Kinder an meine Kollegin und mich.

"Ich lade dich zu meinem Geburtstag ein und dann kannst du mit mir Fernseh gucken!", "Nein, ich mach das NIE MEHR!",

"Ja, ich bin jetzt ganz still!",

"Ich WAR auf Toilette und HABE die Hände gewaschen, wirklich!!" - "Mit Seife?" - "......Ja!?" (Augen unsicher nach links und rechts wackelnd) - "Kann ich mal riechen?" - "OH, hab ich ganz vergessen!"

...Wir wollen heute Schmetterlingsraupen angucken und Schmetterlinge basteln. Eine tolle Idee. Im Nachhinein wird mir auffallen, dass meine Erklärweise für Ziehharmonika-Falten noch verbesserungswürdig ist. Falllllten...glatt machen, ja ein bisschen drücken, ja da auch noch...ummmmdrehen...nein andersrum, so wie wenn du ein Buch anschaust und von einer Seite auf die nächste Seite blätterst...nein, nicht so, so... (wie schauen die Kinder denn Bücher an, über Kopf?!)...und dann wieder falllllten, so wie eben...nach oooben, bis zur Kante. Und dann wieder ummmmdrehen...Es werden aber wunderschöne Exemplare. Am schönsten finde ich die krunkeligen und schiefen mit ganz abgeknickten Fühlern und verschieden großen Flügeln, denn die haben die Kinder ganz selbst gemacht und sind stolz darauf und ich bin stolz darauf, dass sie es ganz selbst gemacht haben. Es geht darum, Freude zu haben am Schaffen, zu lernen, dass es nicht perfekt sein muss. Das möchte ich ihnen so gern vermitteln. Mit Liebe und Anstrengung gemacht. Mit leuchtenden Augen fliegen sie ihre Schmetterlinge quer durchs Zimmer. Sie erkennen, dass selbst gemacht immer besser wird, je öfter man es selbst macht.


Das gilt für alle Bereiche. Irgendwann darf man anfangen, das Messer zu benutzen und nicht nur das ganze Schnitzel auf die Gabel zu spießen und mit schiefem Kopf und vorgeschobener Unterlippe daran herumzuknabbern oder es möglichst noch im Ganzen in den Mund zu stopfen, um danach mitzukriegen, dass es keins zum Nachholen gibt und man vielleicht doch besser hätte genießen sollen...Alles möchte geübt sein. Wasser eingießen und Teller tragen auch, ist ja alles nicht so einfach. Muss man erst erleben, dass die Suppe schwappert, wenn man auf die Unterseite vom Teller gucken will. "Meckt mir miich", gucken mich zusammengekniffene Augen an und ich erkläre ruhig, dass ich nicht alle Bohnen aus der Suppe raussammeln kann. Ein paar Kinder haben lieber keinen Hunger. Bis sie den Nachtisch sehen. Mhmm lecker Rote Grütze mit Vanillesoße. Die paar heißgeliebten spitzen Löffel habe ich vorher aus den weniger geliebten nicht-spitzen Löffeln aussortiert, da ich auf diese Diskussion heute beim besten Willen keine Nerven habe (Das könnte man fast als Selbstfürsorge bezeichnen...). "Schööööön gerade halten, bitte!" Oh. Der Boden hat wohl auch Hunger. Er ist jetzt völlig besprenkelt mitsamt Tisch und Stühlen...wow, hat das eine Reichweite: bis zum Bastelschrank! Überall so schöööööööne rosa Pünktchen. "Au herheeeehn..." beteuert mir der ganz bedrupst ausschauende Konstantin zum dritten mal ganz aufgeregt, aber wer verschüttet so einen leckeren Nachtisch auch mit Absicht?! "Ist doch nicht schlimm", beruhige ich ihn und "Guck mal, da ist noch ganz viel drin in der Schüssel!" und "Das kann passieren!", sage ich und fange an, mit dem weißen Lappen auf dem Boden herumzuwischen und dabei mithilfe der aufmerksamen Rufe der Kinder sämtliche rosa Pünktchen zu erwischen.


"So, jetzt setze ich mich aber auch mal gemütlich hin und esse mein Mittag!", verkünde ich mit einem erleichterten Seufzer und werde unterbrochen von zweifachem Geschrei. Luca hat Rahel die heiße Suppe über den Arm geschüttet. "ABER NUR, WEIL ICH WAS TRINKEN WILL!", schreit er und während ich mit Blick auf den Tisch kombiniere, dass er einfach bitte hätte fragen können, ob jemand ihm die Wasserkanne reicht, statt quer über den Tisch zu grabschen in der Sorge, dass in der Zwischenzeit ihm jemand anderes alles Wasser wegtrinkt, und ihm das auch verkünde, binde ich Rahel ein kalt angefeuchtetes Tuch um das Handgelenk. Die Tränen werden weniger, das Geschrei des Durstigen nicht. "ICH WOLLTE ABER DIE KANNE!!!!" Sebastian steht mit seinem leeren Teller schon seit geschlagenen fünfzehn Sekunden am Speisewagen und erkundigt sich genervt, wie lange er denn NOCH warten müsse. Für den Fall, dass er das nicht bemerkt und überhaupt, weise ich ihn darauf hin, dass ich auch nur zwei Hände habe und mit Erster Hilfe beschäftigt sei. Alle werden dennoch satt, bis auf die Kinder, die genauso viel Vanillesoße bekommen wollten, wie vorher Suppe. "Hast du auch schon etwas getrunken?" frage ich Lena und bin dabei, die Kannen aufzuräumen, um die Tische abwischen zu können. Obwohl mehrere Überschwemmungen durch umgeschubste Becher bereits den Großteil erledigt haben. "Nja, ein bisschen", kommt prompt die Antwort. Ich schaffe die Kannen weg und gerade, als ich sie auf die Spüle stelle, ruft Lena vorwurfsvoll, dass sie aber NOCH etwas hatte trinken wollen! Ich stelle beide Kannen wieder hin mit dem ermunternden Kommentar, dass sie ihren Wunsch das nächste Mal bitte etwas früher äußert und sehe gerade noch, wie Bianca neben ihrer Freundin herumturnt, stolpert und beinahe rückwärts in den Mülleimer fällt.


An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass die Fähigkeiten und Kapazitäten eines jeden Menschen - egal, ob Groß oder Klein - begrenzt sind. Du hast nur zwei Augen (und zwar nicht hinten!), zwei Hände und die können auch nicht zum gleichen Zeitpunkt woanders sein, als der Rest deines Körpers. Lasst uns dabei nicht vergessen, dass die jungen Menschen, die wir begleiten, das entweder noch nicht wissen oder zumindest die großen Zusammenhänge noch nicht begreifen und des Öfteren sehr wohl Dinge von uns Erwachsenen fordern (indem sie mehr oder weniger liebreizend ihre Bedürfnisse kommunizieren), die wir JETZT GERADE nicht unbedingt erfüllen können. Das heißt nicht, dass wir versagen, wenn wir nicht alles auf einmal meistern. Wir können nicht alles auf einmal schaffen. Eins nach dem Anderen. Prioritäten. Durchatmen. Lachen. Das hilft wirklich. Mir hilft es ungemein, Vieles nicht so ernst zu nehmen.


Als ich ins Bad komme, sitzt Lorenz verweint auf der Toilette und hat ein großes Geschäft gemacht. Er zieht mich am Ärmel zu sich heran und schluchzt in meine Halsbeuge. "Hach Lorenz, bist du fertig?" Nicken und Schluchzen. "Hast du gerufen?" Schluchzen ohne Nicken. "Wir haben dich doch nicht vergessen, aber du musst Bescheid sagen, wenn du fertig bist. Okay?" Gucken. "Das können wir doch nicht riechen (naja okee, irgendwie schon, aber Bescheid geben ist trotzdem wichtig). Dann rufst du das nächste mal ganz laut: Feeeertiiiig! Das üben wir jetzt mal, okay?" Gucken ohne Schluchzen. Ich sehe mich um und ermuntere ihn und zwei weitere Kinder, das mit dem Rufen zu üben. Nicht jedem Kind fällt es leicht, auf sich aufmerksam zu machen. Manche sind eher von der stillen Sorte, haben ihre ganz eigenen Qualitäten und sind einfach zu schüchtern, sich bemerkbar zu machen. Ermutigen hilft trotzdem. "Okay, auf drei rufen wir mal Feeertiiiig! Eins, zwei, drei FEEEERTIIIIG!" Die einzige, die ruft, bin ich, aber wenigstens hören die beiden anderen auf, sich statt Hände zu waschen nur immer wieder im Spiegel die Zunge rauszustrecken. Wahrscheinlich wiederholen sie ihren Sachkundeunterricht von vor ein paar Tagen, in dem sie gelernt haben, was die Zunge an welchen Stellen alles schmecken kann. Ga hinkeng fmeck mang...waf ngochma?...Wir sind fertig. Ich auch. Fix und...Noch einmal Mittagsschlaf, dann ist Wochenende!



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